Herr Glaubrecht, während wir hier zusammen reden, geht an einem Ort die Welt eines Tiers oder einer Pflanze verloren. Was sollten wir also davon halten?

Stellen Sie sich vor, es handelt sich um eine Hängebrückenkonstruktion, die durch zahlreiche individuelle Drähte gehalten wird. Diese Vielzahl an Individuen entspricht dem Konzept der Artenvielfalt. In diesem Bild repräsentieren diese einzelnen Drähte verschiedene tierische und pflanzliche Arten. Nehmen wir an, einer dieser Drähte würde wegfallen - etwa weil eine bestimmte Art von Regenwurm aussterben sollte -, so ändert dies zunächst wenig am Gesamtbild. Allerdings nimmt die Stabilität des Ganzen stetig ab, je mehr Drähte entlang dieses Prozesses entfernt werden. Irgendwann erreichen wir dann ein kritisches Stadium, bei dem die gesamte Struktur ins Wanken gerät und letztlich zusammenbricht. Mit jedem Aussterben einer Spezies gehen wertvolle Komponenten unserer funktionalen Biodiversität verloren. Tiere und Pflanzen erfüllen nämlich wesentliche Rollen innerhalb ihrer jeweiligen ökologischen Systeme, deren Funktionsfähigkeit uns Menschen nicht unwichtig ist. Kurz gefasst stellt jeder dieser Faden unseren Sicherheitsnetzbau fürs Überleben dar.

Können Sie mir ein Beispiel geben, wie diese Funktionen verschiedene Arten übernehmen würden?

Ein Beispiel dafür ist der Seeotter, der entlang der kalifornischen Küste zu Hause ist. In der Vergangenheit wurde er aufgrund seines Pelzes intensiv gejagt, was seine Bestände drastisch schmälerte. Diese Tiere spielen jedoch eine entscheidende Rolle bei der Erhaltung von Kelpwäldern. Sie ernähren sich vor allem von Seesechsen. Wenn ihre Population abnimmt, können diese Seeschein bestens gedeihen und die Kelpwälder gefährden. Doch diese Wälder dienen als Unterschlupf für viele Fischarten sowie marine Lebensformen. Daher führt das Aussterben bestimmter Spezies zu einer Kettenreaktion im Ökosystem.

Denken Sie daran, ob den Menschen das Wichtigsein des Artenreichtums klar ist?

Nein, eine Menge Leute begreifen diese Verbindungen noch nicht. Dies liegt teilweise daran, dass solche Themen in Schulen nicht gelehrt werden. Daher stellt sich immer wieder die Frage: Ist es problematisch, wenn Spezies aussterben? Allerdings ist das tatsächlich so. Ebenso wie man nicht fragt: Ist es bedenklich, wenn am Aktienmarkt Geld verschwindet?

Ist es nicht eher der Fall, dass wir das Problem einfach ignorieren?

Ich bin davon überzeugt, dass die Menschen das Problem gar nicht leugnen, sondern es ihnen lediglich bisher entgangen ist. Ein Grund dafür liegt darin, dass wir unseren Zusammenhang mit der Natur vernachlässigt haben. Die grundlegende Schwierigkeit besteht darin, dass wir uns einbilden, die Natur unter Kontrolle zu haben. Dass wir jedoch Teil dieser Natur sind und diese bislang weder vollständig erforscht noch begriffen haben, wird oft übersehen.

Wir sollten uns nicht ausschließlich auf den Klimawandel konzentrieren, da dies nicht unser dringendstes Problem ist. Das Klima ist zwar wichtig, aber es steht nicht im Mittelpunkt aller Herausforderungen.

Wie meinen Sie das?

In den letzten 250 Jahren haben wir etwa zwei Millionen Tier- und Pflanzenarten erfasst. Schätzungen, die als ziemlich sicher gelten können, deuten jedoch darauf hin, dass es tatsächlich bis zu acht Millionen sein könnten. Viele Arten bleiben uns aber weiterhin unbekannt. Daher sehen wir praktisch mit nur einem Auge.

Und das zweite Auge richtet den falschen Brennpunkt. Wenn es um das Aussterben von Arten geht, konzentrieren wir uns vor allem auf Säuger und Vögel – also die größerer Tiere. Diese stellen jedoch nur einen relativ geringen Teil dar: Es gibt weltweit mehr als 5600 Säugetierarten bekannt, während die Anzahl der Vogelarten über 11.000 beträgt. Im Gegensatz dazu werden die Zahlen für gefährdete Wirbellose wie Schneckenschalen oder Muscheln mit etwa 130.000 angegeben.

Auch wenn wir glauben, dass der Tiger aussterben wird, ist dies nicht wirklich entscheidend. Vielmehr geht es um all die zahlreichen anderen Arten, von denen wir bisher keine Ahnung haben und die beispielsweise in Gewässern und im Erdreich eine wichtige Funktion einnehmen.

In Ihrem Werk "Das stille Sterben der Natur" argumentieren Sie, dass wir ein weiteres Missverhältnis haben – genauer gesagt das Augenmerk auf die Klimakrise.

Ich möchte nicht behaupten, dass sich das Augenmerk irreführend ist. Auch ich zweifle die Existenz der Klimakrise keinesfalls an. Allerdings sollten wir nicht ausschließlich auf den Klimawandel konzentriert sein, da dies nicht unsere dringlichste Herausforderung darstellt. Das Klima stellt jedoch nicht das einzige Problem dar.

Aber tritt die Klimakrise nicht auch als Treiber des Artenschwunds auf?

Selbstverständlich hängt der Verlust an Artdiversity auch vom Klimawandel ab – jedoch nur zu einem Umfang von fünf bis zehn Prozent. Der Hauptauslöser für die Krise im Bereich der biologischen Vielfalt ist nicht das Klima, sondern vielmehr die Landwirtschaft. Durch beispielsweise die Rodung von Wäldern zur Errichtung landwirtschaftlicher Flächen wird diesbezüglich ein wichtiger Lebensraum für verschiedene Spezies vernichtet oder vertrieben.

Ich möchte keinesfalls das Klimaproblem gegen den Verlust an Artdiversität ausspielen. Allerdings sollte klar sein, dass unser Planet unter Druck gerät wegen unserer menschenbedingten Aktivitäten. Ein wesentlicher Aspekt hierbei ist der Rückgang an Habitaten. Dieser Phänomen ist jedoch nicht ausschließlich darauf zurückzuführen, dass die Erdtemperatur steigt. Fokussieren wir uns hauptsächlich auf die Bekämpfung des Klimawandels, vernachlässigen wir andere Herausforderungen wie beispielsweise den Verlust an Arterhaltung. Als Beispiel dient hier die Energietransformation.

Inwiefern?

Das, was wir tun, besteht darin, uns für regenerative Energiequellen einzusetzen – und das ist auch korrekt so. Allerdings vergessen wir oft, dass es wichtig ist, sicherzustellen, dass die Ökosysteme, in denen diese Technologien implementiert werden, weiterhin belastbar sind. Tatsächlich gefährden wir sogar ihre Stabilität, da durch unsere Maßnahmen zunehmend Arten bedroht werden. Es darf nicht unser Ansatz sein, den letzte Bestandteil unserer Wälder abzureißen nur damit man glaubt, an diesen Orten Windräder errichten zu können. Vielmehr sollten wir nachhaltige Energieträger einsetzen, während gleichzeitig dafür sorgt, dass wir die Natur schützen und nicht vernichten.

Ich fungiere praktisch als der Arzt, der den Personen mitteilt: "Es gibt ein Problem." Das Problem besteht darin, dass unser Handeln die Überlebenschancen vieler Menschen gefährdet.

Daher ist es notwendig, ob mehrWarnungen erforderlich sind, damit die Ausrottung von Arten ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rückt?

Es gab bereits Warnungen damals und es gibt sie noch heute. Dennoch wäre es nach meinem Dafürhalten unangebracht, insAlarmzustehen. Das könnte nämlich Missgunst erzeugen und die Leute könnten sich abwenden und nicht mehr auf uns hören. Was sie jedoch erwarten, sind keine Ärzte, welche ständig Angst schreien – "Oh nein! Mir geht es sehr schlecht wegen Ihrem Gesundheitszustand." Nein, was sie suchen, ist ein fähiger Arzt, der klar erklärt: „Sie leiden an diesem oder jenem, aber hier ist genau, wie wir vorgehen müssen.“ So betrachte ich meine Aufgabe als Biologiediversity-Forscher. In gewisser Weise spiele ich dabei die Rolle des Arztes, der dem Volk klarmacht: „Wir stehen vor einem Problem.“ Und dieses Problem besteht darin, dass viele menschliche Lebensweisen bedroht werden.

Wie können wir den Schutz der biologischen Vielfalt gewährleisten?

Es ist uns bereits bekannt, wie wir die biologische Vielfalt bewahren können – nämlich durch den Schutz ihrer natürlichen Lebensräume anstatt nur einzelner Spezies. Zum Beispiel sollten nicht nur der Kranich, der Kondor oder die Kapuzinerkresse gerettet werden, sondern vielmehr ihre Habitate. Im Jahr 2022 legte die Konferenz zur biodiversitätspolitischen Entscheidung der VereintenNationen in Montreal fest, dass bis zu einem Ziel von 30 x 30 erreicht wird. Dieses beinhaltet, dass zumindest dreißig Prozent aller Ländereien sowie Meeresareale bis 2030 unter Schutz gestellt werden müssen.

Damals war es eine wichtige Zäsur – was mir Optimismus gibt. Selbst wenn die EU beispielsweise erst einmal nur einen Anteil von zwanzig Prozent anstrebt, würde dies immerhin fortschreitend sein. Bei Naturreservaten sollten wir besonders darauf achten, dass diese weder zu klein noch isoliert bleiben. Es ist notwendig, sie miteinander zu verbinden, um dem freien Wachstum von Pflanzen und Tieren Raum zu geben. Im Gegensatz zur Bekämpfung des Klimawandels sollte der Erhalt der Biodiversität jedoch lokal oder regional stattfinden. Denn man kann Arten nicht weltweit gleichzeitig beschützen.

Was bedeutet das konkret?

Das heißt, dass jeder Einzelne einen Beitrag zur Artenvielfalt beitragen kann. Nehmen wir etwa Ihren Garten: Geben Sie dem Mäherbot einmal frei Hausurlaub und beobachten Sie, wie sich das Gras entwickelt. Schaffen Sie genügend Baum- und Strauchwerk, sodass Vögel Platz zum Nestbau haben. Wir können diesen Ansatz überall dort umsetzen, wo wir Land nutzen.

Können wir den Verlust der Arten doch noch verhindern?

Natürlich. Werden wir auch in den nächsten Jahren und Jahrzehnten weiterhin erfolgreich – doch dafür müssen wir uns stärker auf die wahren Hintergründe konzentrieren und davon abrücken, diese flüchtige Ansicht des Versagens hinzunehmen: Die Umweltverschmutzung trägt die Schuld. Stattdessen sollten wir lernen, besser mit unserer Natur zusammenzuleben und damit aufhören, einen Konflikt mit ihr auszuführen.

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